Der ?Erminoldmeister“
Auftakt und zugleich künstlerischer H?hepunkt der Domskulptur ist die Verkündigungsgruppe mit dem Erzengel Gabriel und der Jungfrau Maria. Sie stammt von einem genialen Bildhauer, den man bislang nach einem anderen Werk von seiner Hand, dem 1283 geschaffenen Grabmal des sel. Abtes Erminold in der Klosterkirche Prüfening, ?Erminoldmeister“ nannte. Seit neuem darf man ihn wohl als Meister Ludwig ansprechen, denn ziemlich sicher waren der Bildhauer und jener Ludwig, der ab etwa 1285 als Baumeister antrat und ein neues künstlerisches Konzept für die Architektur mitbrachte ein und dieselbe Person. Die wichtigsten künstlerischen Merkmale der Verkündigungsgruppe sind ihre au?erordentlich plastische Erscheinung sowie die expressive Ausdruckskraft und gleichzeitige Feinsinnigkeit in Gesten und Mienenspiel.
Die k?rperlich plastische Pr?senz dieser Bildwerke steht in bemerkenswertem Einklang mit jenen neuen plastischen Qualit?ten in der Gliederung der Architektur, die das Neukonzept des Dombaumeisters Ludwig so auszeichnen. Sein spezielles Markenzeichen als Bildhauer sind die Ausdruckskraft und Innigkeit in der Zwiesprache der beiden Figuren. Sie s?umen seinen Weg von Frankreich nach Regensburg, wobei das Baseler Münster oder die Kathedralen von Paris und Reims wichtige Stationen waren. Neu ist auch die raumübergreifende Positionierung der Verkündigungsgruppe. K?rperhaltung und Faltenstr?me der Gew?nder sind spannungsvoll in Bewegung ver?setzt, alles ist erfasst von der erregten Szene. ?ber die ganze Kirchenschiffbreite hinweg, mehr als 10 m, antwortet Maria in vornehmer Zurückhaltung und Demut dem ungezügelt freudigen Lachen des Engels. Ursprünglich hielt er auf seiner tuchverhüllten Linken das Jesuskind, um es Maria symbolisch entgegenzutragen. Sp?tere Zeiten sahen dadurch die leibliche Mutterschaft Mariens in Zweifel gerückt, woraufhin das Jesuskind entfernt wurde. Wann dies geschah, l?sst sich aus den Befunden an der Bruchstelle nicht erschlie?en. Im Lichte der theologischen Diskussion zu dieser Fragestellung dürfte die Ma?nahme zu Beginn des 16. Jahrhunderts erfolgt sein. ?berreste des Kindes sind bislang nicht aufgefunden worden. Die leicht abwehrende Hand Mariens mag, menschlich interpretiert, ?berraschtsein zum Ausdruck bringen, sie ist vielmehr aber eine Geste der Bereitschaft, den Auftrag des Engels anzunehmen. Die offen dargebotene Hand galt im Mittelalter als offizielles Zeichen der Herrscher-Akklamation, das hei?t des Treueschwurs bei der ?bernahme eines Lehens vom Lehnsherrn. Das strahlende Lachen des Engels ist inzwischen zu einem Wahrzeichen Regensburgs geworden.
Die 1280/85 gemei?elten Figuren waren vielleicht noch im alten Dom aufgestellt, bis der Neubau soweit gediehen war. Um 1290 wurden sie dann, eingepasst in gemalte, wiederum R?umlichkeit vort?uschende Rahmenfelder an den L?ngsw?nden des Hochchors einander gegenüber platziert. Sie standen damit nahe beim Hauptaltar im liturgischen Kernbereich des Domes und waren, abgetrennt durch die hohe Lettnerschranke am Choreingang, den Blicken der Gl?ubigen im Kirchenschiff vorenthalten. Seitenvertauscht stehen die beiden Figuren seit dem 19. Jahrhundert an den westlichen Vierungspfeilern. Die neu aufgeflammte Gotikbegeisterung wollte sie nun mehr ins optische Zentrum des Domes gerückt sehen. Das heutige farbige Erscheinungsbild der Figuren ist ein gewachsener Mischzustand aus fünf h?chst unterschiedlich erhaltenen Fassungen.
Die heute mit blo?em Auge erkennbare Bemalung stammt von der jüngsten Fassung aus der Zeit um 1700. Auch wenn davon gro?e Bereiche verloren sind, ergibt sich in der Vorstellung ein ungef?hres Gesamtbild. Maria tr?gt ein zinnoberrotes Untergewand mit rot/goldenem Rosettenmuster sowie einen grauen Mantel mit schwarz/goldenen Rosetten. Beim Engel imitierte die Fassung von Untergewand und Mantel einen silbrig durchsetzten Stoff mit Streifen und buntem Blumendekor. Golds?ume bereichern die Gew?nder. Die Inkarnate sind ins Blassgrau abged?mpft. Die Fassung ist in typisch barocker Manier malerisch flott und eher gro?spurig ausgeführt. Schon bei der n?chstunteren Fassung, die etwa um 1630 entstand, sind die Gewandteile deutlicher differenziert. Die vorausgehenden mittelalterlichen Fassungen zeigen demgegenüber eine unvergleichlich schmuckvollere Kleinteiligkeit in Form und Farbe.